Hochseefischer Welt
See-Episoden anderer Art
Reiseepisode von Dr. Peer Schmidt-Walther Schifffahrts- und Reisejournalist Buch- und Filmautor
Als „Hilfseisbrecher“ durch die Rigaer Bucht Maritime Solidarität: Meeresnymphe „Thetis“ in ungewöhnlicher Mission Hamburg im Wahl-Fieber. Nicht so der Shuttlebus-Fahrer vom Burchardkai. Ihm ist das Hemd näher als die Hose: „Seh´n Sie mal, drei Blechkisten übereinander – wir boomen wieder!“ Auch Dr. Peer Schmidt-Walther hat sich an Bord direkt davon überzeugt. Der Mann kurvt seinen Passagier durch die Gassen der Containergebirge im Hafen und freut sich, dass es nach überstandener Flaute wieder reichlich Ladung gibt. Auch für das Container-Feederschiff „Thetis“. Seine Fracht ist für Riga und Klaipeda bestimmt. Über Nacht rutscht der gerade mal zwei Jahre junge und sehr gepflegte 17.000-Tonner erst elbab- und dann weseraufwärts. In Bremerhaven nämlich muss der Kistenstapel noch mal getoppt werden. Das heißt Landgang. Downtown entweder fünf Kilometer zu Fuß, per Bus oder Taxi. Eine graue Hafenstadt ohne großartige Sehenswürdigkeiten? Daneben getippt! „Meer erleben“, so verspricht die druckfrische Tageszeitung. Klimahaus und Labskaus Am Zusammenfluss von Weser und Geeste locken spektakuläre Neubauten und Museen. Zum Beispiel das Klimahaus mit einer „Reise auf dem 8. Längengrad an einem Tag einmal um die Erde“. Zu einem anregenden Streifzug durch die Schifffahrtsgeschichte lädt gleich nebenan das Deutsche Schifffahrtsmuseum mit seinem Museumshafen. Stilecht die Einkehr zur Mittagspause auf einem alten Windjammer: der 1919 gebauten Bark „Seute Deern“. Dazu passt natürlich nur ein deftiges Labskaus aus der Bordküche. Darf´s, wenn die Zeit reicht - nach einem Verdauungsspaziergang auf dem Weserdeich -, noch ein Nachschlag sein? Wie wär´s mit dem Deutschen Auswandererhaus oder dem Zoo am Meer? Der finnische Kapitän Pekka Stenvik und seine zehn Männer können von solchen Ausflügen nur träumen. Der junge Alte hingegen ist froh, wenn er drei Worte ins Logbuch eintragen kann: „Beginn der Seereise“.
MS "Thetis" passiert Cuxhaven in voller Fahrt
Eisfahrt im Blut Erst als am nächsten Morgen, nach 16 Stunden angestrengter Wachsamkeit auf der Brücke, der Nord-Ostsee-Kanal hinter ihm liegt, kann sich der 42-Jährige entspannt aufs Ohr legen. Die Ostsee verhält sich 24 Stunden lang ruhig – bis zu früher Stunde dumpfe Schläge wie von Vorschlaghämmern gegen die Bordwände donnern. An Schlaf ist nicht mehr zu denken, denn jetzt beginnt die Eisfahrt. Für den Passagier d a s „Highlight“ der Reise, getreu dem Motto aller skadinavischen Eisbrecher-Seeleute: „Ice is nice!“ Kapitän Stenvik sieht das berufsbedingt anders: „Mich nervt´s langsam“. Er ist schon seit Stunden wieder auf der Brücke, denn seinen Steuerleuten von den Philippinen und aus der Ukraine fehlt die Erfahrung mit der Eisnavigation. Als Finne habe er das gewissermaßen im Blut. Die beiden Scheinwerfer auf dem Peildeck tasten sich, bei jedem Eisaufprall vibrierend, durch die bitterkalte Nacht. Power braucht dickes Fell Nach Sonnenaufgang: ringsum eine scheinbar endlose weiße Decke, die gesprenkelt ist mit drei Dutzend dunklen Punkten. „Lauter Frachter!“ Kapitän Stenvik setzt das Fernglas ab, schaut auf den Radarschirm und schüttelt den Kopf: „Bis auf uns fährt hier keiner“. Die Rigaer Bucht ist komplett dicht: gedeckelt mit Eis bis zu 40 Zentimetern Stärke. „Ein Durchkommen“, erklärt der Kapitän, „ist nur mit hoher Eisklasse und starken Maschinen möglich“. Seine „Thetis“ – ein Kieler Lotse nannte sie „schönste der Töchter des Meeresgottes Nereus“ -, ist nicht nur ansehnlich, sondern hat auch Power: fast 16.000 PS und ein dickes (Stahl-)Fell. Im Eis eingeschlossen sind, so zählt er, 35 Schiffe aller Typen und Größen, manche ohne die erforderliche Stärke und hoch aufragend in Ballast, Schraube und Ruderanlage längst tiefgefroren und unbeweglich. Pekka Stenvik kann diesen navigatorischen Leichtsinn seiner Kollegen nicht nachvollziehen. Offenbar sei das ihnen und dem Charterer egal, wenn hier überflüssigerweise hohe Kosten entstehen. Aber das ist nicht der einzige Grund ihrer Gefangenschaft. Eisbrecher-Kapitulation Dann bewegt sich doch etwas. VARMA ist in großen weißen Lettern auf seine schwarzen Flanken gemalt: Der einzige lettische Eisbrecher, ein aus Finnland angekaufter Veteran, kurvt krachend und knirschend zwischen ein paar Frachtern hindurch. Aber er ist viel zu schwach auf der Brust. „Thetis“ glänzt mit fast vierfacher Stärke und rauscht hoch erhobenen Hauptes mit elf Knoten an dem Eis-Profi vorbei. Der gibt bald auf, kehrt wieder an seinen Liegeplatz nahe der Daugava-Mündung zurück und überlässt die festgefrorenen Schiffe ihrem ungewissen Schicksal. „Kein Sprit mehr“, kommentiert das der Lotse knapp, und Pekka Stenvik meint nur: „Unglaublich!“ „Thetis“ muss sich ihren Rigaer Liegeplatz, der von Eis blockiert ist, regelrecht erkämpfen. Doch der Kapitän hat einen Joker in der Hinterhand: Mit dem Bugstrahlruder spült er sein Schiff, inzwischen im spitzen Winkel vorn festgemacht, allmählich frei. Achtern assistiert ein bulliger Schlepper und drückt mit seiner vereisten Nase gegen die Bordwand.
Eislotse geht vor Riga an Bord
Bis zu 40 cm Eisstärke
Romantik ohne Rummel Der Reederei-Agent fährt den Passagier abends hinein nach Riga. Ein Kapitäns-Arrangement. Trotz - 18 Grad und hohem Schnee erkundet sie die von Hanse und Jugendstil geprägte komplett restaurierte sehenswerte Altstadt. „Absolut Romantisch“, findet der Frachter-Passagier die winterliche Szenerie, „auch dass um diese Jahreszeit kein Touristenrummel herrscht“. Gleiches gilt auch für den nächsten Hafen Klaipeda, das frühere Memel. Den kilometerlangen Strand der Kurischen Nehrung samt Altstadt mit Ännchen-von-Tharau-Brunnen hat er für sich allein. Einen ganzen Tag lang. Im tiefen Gewölbekeller der authentischen Mittelalter-Gaststätte „Rozengrals“ im Zentrum Rigas wärmt er sich bei Kerzenschein auf und probiert auch schon mal das dunkel-süffige lokale Bier. Mit einem „Baltic“-Taxi, das, empfiehlt der Agent, einen fairen Preis garantiert, geht es zurück – allerdings nur bis zum Hafentor. Ob der Wächter Schmiergeld zum Öffnen der Schranke braucht? Eine Stunde nächtlicher Fußmarsch bei knackigem – 22-Grad-Frost bleiben einem nicht erspart: vorbei an einem Zaunlabyrinth, durch Birkenwald und über Transsib-Schienen mit kreischenden Waggon-Schlangen. Sibirien lässt grüßen! Nur der Vollmond kann darüber lachen. Die Nacht gehört dem Laden und Löschen. In der gemütlichen Passagier-Suite mit achterlichem Blick auf den eisschollengespickten Fluss hört man nichts davon.
Eis-Dramatik mit Solidarität Am nächsten Vormittag, zur Coffee-time um zehn Uhr, steigt sie nach oben auf die Brücke. Kapitän und Lotse besprechen gerade das Auslaufmanöver. Die Maschine bullert schon eine Weile. Über Sprechfunk gibt Pekka Anweisungen, die von Erstem und Zweitem Offizier schnarrend quittiert werden. Die Leinen klatschen auf das Trümmereis, schwerfällig löst sich der Frachter von der Pier, dreht im Strom und nimmt Kurs auf die Rigaer Bucht. VARMA döst nach wie vor bewegungslos an der Pier der Lotsenstation. Das lässt „Thetis“ als „Tochter des Meeresgottes“ kalt. Nicht jedoch die internationalen Hilferufe, die sie bald erreichen: Ob man dieses oder jenes an der Kurslinie befindliche Schiff nicht befreien könne. „Klar doch, machen wir“, gibt ihnen Pekka Stenvik zu verstehen, „ist doch selbstverständlich!“ Mit anderen Worten: maritime Solidarität. Die beiden vorbeirauschenden Schlepper „Marss I“ und „Dimitris“ hingegen juckt das nicht im Geringsten. Die halten stur ihren Kurs auf Riga. Stenvik nimmt den ersten Frachter aufs Korn. Die „Sandy Rickmers“ aus Hamburg, etwa gleichgroß wie „Thetis“, klemmt genau voraus in der gefrorenen Rinne fest. Über Sprechfunk verständigt man sich. „Thetis“ hält unbeirrt auf den Kollegen zu. Doch der bekommt es plötzlich mit der Angst, die er auch noch in den Äther posaunt: „Wann wollen Sie endlich die Fahrt reduzieren und abdrehen?“ Stenvik beruhigt ihn und erklärt, dass er so dicht wie möglich mit full speed heranfahren müsse: „Nur dann können wir euch hier ´rausholen. Starten Sie schon mal die Maschine und geben Sie voll voraus!“ Sieben harte Brücken-Stunden Steven zeigt auf Steven - bis Stenvik nach Backbord dreht. Was auf den ersten Blick beängstigend knapp wirkt, ist hier absolut notwendig. Und siehe da: „Sandy“ bewegt sich. Im Millimetertempo schiebt sich der Feeder schwarzqualmend in unsere frisch gebrochene Rinne. Das Manöver gelingt auch mit den Tankern „Ekfjord“ und „Saturnus“. Selbst die kleinen Küstenfrachter „Dalarna“ und „Vita“ können sich dank Hilfseisbrecher „Thetis“ geschickt befreien. Dankbar winken die Besatzungen aller Schiffe herüber, und Kapitän Pekka Stenvik freut sich. Selbst nach sieben Stunden harter Manöverfahrt bleibt er gelassen und freundlich, meint aber, dass so etwas vor Finnland nicht passiert wäre: „Alle Eisbrecher sind dort ständig im Einsatz und helfen, wo es geht“. Auf einigen Schiffen jedoch werden die Maschinen zu spät gestartet, so dass sie vorerst zum Bleiben verurteilt sind. Resigniert meint ein festsitzender Kapitäns-Kollege über Funk, dass er nun wohl bis zum Frühjahr warten müsse. Pekka Stenvik kann ihn beruhigen: "In 14 Tagen sind wir wieder hier!"Passagier-Fazit: „Der schönste Tag der Reise!“
Kapitän nimmt Kontakt auf zu einem Eislieger
"Thetis" befreit "Ekfjord" aus dem Eis
MS "Thetis" beim einlaufen
Infos: MS „Thetis“: Bauwerft: J. J. Sietas, Hamburg-Neuenfelde1; Baujahr: 2009; Typ: 178 „Baltic Max“, Containerfeeder-Schiff; Länge: 168 m, Breite: 27,5 m, Tiefgang (max.): 9,50 m; tdw: 17.882 t; Klassifizierung: Germanischer Lloyd (GL); IMO-Nr.: 9372274; Eisklasse: E 4/1 A Super, TEU: 1421 TEU; Höhe: 38 m; Hauptmaschine: 11.200 kw (15.227 PS), MAN B&W; Crew: 11; Bugstrahlruder: 900 kW, Heckstrahlruder: 750 kW; Flagge: Luxemburg; Fahrtgebiet: Nord-Ostsee; aus dem Taufspruch vom 20.9.2009: „…Dein Anblick erhellt, Du Thetis, des Meeres Braut…magst trotzen der rauen Gewalt unverwundet an Bug, in Luv und Lee…“ Fahrtgebiet: Nord-Ostsee, Fahrtstrecke: ca. 2000 Seemeilen in acht Tagen Buchung, Infos: Reederei Drevin: www.reederei-drevin.de Eisbrecher „Varma“: gebaut: 1968 in Finnland, 1994 an Lettland verkauft; tdw: 4258 t; Länge: 86 m, Breite: 21,20 m, Tiefgang: 6,99 m; Hauptmaschine: 4258 PS
MS “Merchant” MS “Merchant”